Geschichtswerkstatt Minsk - Ein belorussisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt
 
 Alexander Korb, Gabriele Layer-Jung
 
Im NS-Vernichtungslager in Maly Trostenez bei Minsk wurden vermutlich
mehr als 100 000 Bürger der Sowjetunion, die meisten von ihnen Juden,
und etwa 25 000 vorwiegend deutsche, tschechische und österreichische
Juden ermordet.1 Nur wenige Juden überlebten das Minsker Getto. Trotz
des gewaltigen Ausmaßes der Verbrechen sind Trostenez und das Minsker
Getto weitgehend unbekannt.
Im Rahmen eines belorussisch-deutschen Projekts unter Leitung des
Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) Dortmund und des IBB
Minsk, soll in Minsk eine Geschichtswerkstatt eingerichtet werden, um
diese Lücke in Belarus und in Deutschland zu schließen.
Das Projekt wurde über verschiedene Mailinglisten bekannt gemacht.
Interessierte wurden gleichzeitig aufgefordert, sich für die Teilnahme
zu bewerben. Aus über 40 Bewerbungen wurden 17 Teilnehmer ausgesucht,
die vom 20. September bis zum 6. Oktober 2002 schließlich, gemeinsam mit
belorussischen Wissenschaftlern, am Workcamp in Minsk teilnahmen. Im
Folgenden wird der Forschungsgegenstand beschrieben, das Konzept der
Geschichtswerkstatt Minsk dargelegt und aus den Arbeitsgruppen berichtet.

Der Veranstalter
Veranstalter der Reise war das Internationale Bildungs- und
Begegnungswerk (IBB) Dortmund, das sich seit vielen Jahren in
belorussisch-deutschen Gemeinschaftsprojekten engagiert. Ferner
veröffentlichte das IBB zahlreiche Broschüren zur Geschichte von Belarus
während der deutschen Besatzungszeit.
Vor sieben Jahren entstand das IBB Minsk, die Partnerorganisation des
IBB Dortmund. Der Schwerpunkt des IBB Minsk liegt bei der Vermittlung
von belorussisch-deutschen Industriekooperationen. Das IBB Minsk ist in
einem 1994 errichteten Gebäude beheimatet, in dem sich ein Hotel
befindet. Im Gebäude werden auch Räume an Organisationen wie die OSZE
oder den Volksbund für die Kriegsgräberfürsorge vermietet.
Im Mai 2002 fand in den Räumen der Evangelischen Akademie in Iserlohn
die Tagung »Orte der Vernichtung in Belarus  Die Geschichte des Minsker
Gettos und des KZ Trostenez« statt, die vom IBB Dortmund in Kooperation
mit der Evangelischen Akademie Iserlohn veranstaltet wurde. Dort wurde
gemeinsam mit belorussischen Wissenschaftlern ein erstes Konzept für
eine Geschichtswerkstatt erarbeitet und diskutiert.
Ein erster Schritt zur Umsetzung der in Iserlohn geäußerten Vorschläge
und Ideen war das Workcamp.

Die Zerstörung von Minsk und die Einnahme der Stadt
Die deutschen Truppen besetzten die Stadt Minsk am 28. Juni 1941. Zuvor
hatten deutsche Luftangriffe die Stadt zu einem überwiegenden Teil
zerstört. Von den ehemals etwa 240 000 Einwohnern blieb weniger als die
Hälfte in der Stadt. Juden stellten mit 100 000120 000 Menschen etwa
die Hälfte der Minsker Stadtbevölkerung, von denen es einigen gelang,
mit der Roten Armee zu fliehen.
Wenige Tage nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht wurden in den meisten
größeren weißrussischen Städten sogenannte Zivilgefangenenlager
eingerichtet, in denen alle wehrfähigen Männer zwischen 15 und 45
Jahren, Juden und Nichtjuden, interniert wurden. In Drosdy, fünf
Kilometer nördlich von Minsk, wurden bis zu 40 000 Zivilisten und 100
000 Kriegsgefangene auf freiem Feld hinter Stacheldrahtzaun gefangen
gehalten und von Wehrmachtseinheiten bewacht. Die meisten Gefangenen,
auch Juden, wurden bis zum 12. Juli wieder freigelassen. Etwa 10.000
Menschen, die meisten von ihnen Juden, wurden von Kommandos der
Einsatzgruppe B in Drosdy ermordet.
Das Lager war die erste Vorstufe des Gettos. Zivilgefangenenlager wie
Drosdy dienten der Sicherheitspolizei und dem SD als Instrument zur
bevölkerungspolitischen Regulierung. Inhaber bestimmter Berufe, jüdische
Kriegsgefangene, Kommunisten, sogenannte Intelligenzler und viele andere
Menschen wurden von der Sicherheitspolizei selektiert und erschossen.
Minsk unterstand zunächst der Militärverwaltung, bis am ersten September
1941 das Generalkommissariat »Weißruthenien« als Teil des
Reichskommissariates »Ostland« eingerichtet wurde. Generalkommissar
wurde Wilhelm Kube, der 1936 zunächst seiner Ämter enthoben worden war
und für den der Überfall auf die Sowjetunion neue
»Karrieremöglichkeiten« bot. Kube wurde am 22. September 1943 durch
einen Anschlag sowjetischer Partisaninnen und Partisanen getötet. Sein
Nachfolger wurde der SS-Gruppenführer Curt von Gottberg.

Das Minsker Getto
Am 19. Juli ernannte der Feldkommandant der Wehrmacht einen Judenrat und
erteilte den Minsker Juden den Befehl, binnen fünf Tagen in das neu
bestimmte Getto zu ziehen. Die genaue Anzahl der Juden, die im Minsker
Getto zusammengedrängt wurden, lässt sich nicht ermitteln. Uwe
Gartenschläger geht von 70 00080 000 Menschen aus, die auf engstem Raum
eingepfercht wurde2. Oft mussten sich über 20 Personen einen Raum
teilen. Das Getto befand sich auf einem etwa zwei Quadratkilometer
großen Gebiet und war mit überwiegend einstöckigen, vielfach zerstörten
Holzhäusern und ungefähr 40 Straßen bebaut. Später wurde das Getto mit
Stacheldrahtzaun umfasst. Die Juden aus dem Minsker Umland wurden
entweder in das Minsker Getto umgesiedelt oder bis zum Herbst 1941 von
Einsatzgruppen ermordet.
Den Gettobewohnern wurde auferlegt, einen großen gelben »Judenfleck«
sowie beidseitig die Nummer ihres Wohnhauses auf ihrer Kleidung
anzubringen. Die Mehrheit der Minsker Juden musste in deutschen
Dienststellen, zahlreichen Firmen sowie bei der Wehrmacht Zwangsarbeit
leisten. Tausende Gettobewohner starben an Hunger, Krankheiten und an
individuellen Misshandlungen.
Seit August 1941 wurden in mehreren Razzien und »Aktionen« jeweils
Tausende aus dem Getto verschleppt und im Wald von Blagowschtschina 13
km südöstlich von Minsk vor offenen Gruben erschossen.
Die jüdischen Widerstandsgruppen im Getto versuchten nicht, einen
Aufstand gegen die Deutschen zu organisieren, sondern setzten darauf, so
viele Juden wie möglich aus dem Getto zu schleusen, um aus den Wäldern
heraus den Deutschen effektiver schaden zu können und jüdisches Leben zu
retten. Im Getto wurden viele zum Teil sehr gut getarnte Verstecke,
sogenannte »Malinas« eingerichtet. Einigen Juden gelang es so, die
Razzien der Deutschen zu überstehen.
Im ersten Jahr des Bestehens des Gettos waren jüdische Partisanengruppen
auf materielle und ideelle Unterstützung aus dem Getto angewiesen. Im
Verlauf des Jahres 1942 wurden die Partisaneneinheiten sehr viel
unabhängiger und schlagkräftiger. Da sich in der Nähe von Minsk dichte
und weitläufige Waldgebiete befanden, gelang es Juden, zu den Partisanen
zu flüchten oder eigene Partisaneneinheiten zu bilden.

Die Deportation von Juden aus dem »Altreich« und die Massenmorde in
Blagowschtschina
Im November 1941 wurden 6 959 jüdische Menschen in sieben Transporten
aus den Städten Hamburg, Bremen, Düsseldorf, Frankfurt/M., Berlin, Brünn
sowie aus Wien nach Minsk deportiert. Um »Platz für sie zu schaffen«
ließ der SD vom 7. bis 11. November 1941 etwa 6 000 weißrussische Juden
in Blagowschtschina erschießen. Fortan bestand das vom übrigen Getto
abgetrennte »Sondergetto«, in dem die aus dem Reichsgebiet deportierten,
überwiegend deutschsprachigen Juden untergebracht waren. Die zwischen
Mai und Juli 1942 in mindestens sieben Deportationszügen aus Wien,
Theresienstadt, Königsberg, Köln und evtl. aus dem KZ Dachau
verschleppten (mindestens) 8 000 Juden wurden am Minsker Güterbahnhof
selektiert, fast alle mit Lkws nach Blagowschtschina gefahren und dort
erschossen oder auf dem Weg dorthin in Gaswagen erstickt. Die
KdS-Dienststelle Minsk verfügte über mindestens drei solcher Gaswagen,
die wahrscheinlich seit Juni 1942 im Mordeinsatz waren. Im August 1942
wurde ein Verbindungsgleis fertiggestellt, das zu einer Rampe in der
Nähe des SS-Gutes Maly Trostenez führte: die letzten mindestens acht
Züge aus Theresienstadt und Wien mit mindestens 7 500 Juden endeten
dort. Bis auf wenige Handwerker, die ins Lager des SS-Gutes geführt
wurden, trieben die SS-Wachmannschaften die Juden in den nahe gelegenen
Wald und erschossen sie dort. Seit Mai 1942 waren die Gruben im Wald von
Blagowschtschina die zentrale Mord- und Hinrichtungsstätte der deutschen
Besatzer, in der sowohl die Juden aus dem Minsker Getto als auch
zahlreiche nichtjüdische Weißrussen ermordet wurden.
Ein kleines Denkmal, vor kurzem errichtet, befindet sich im Wald von
Blagowschtschina. Der Weg dorthin führt unterhalb einer städtischen
Müllkippe vorbei in den Wald. Hinter dem Denkmal, wo sich die Gruben mit
den erschossenen und verbrannten Toten befanden, sind Löcher im
Waldboden erkennbar.
Das größte Pogrom im Getto, dem etwa 30 000 Juden zum Opfer fielen, fand
vom 28.30.Juli 1942 statt. Seitdem befanden sich nur noch etwa 9 000
Juden im Getto. Der größte Teil von ihnen wurde bei der Auflösung des
Gettos am 21. Oktober 1943 ermordet.
Auf dem Gebiet des Minsker Gettos befindet sich heute ein Neubaugebiet.
Dort, wo sich einst der jüdische Friedhof befand, ist heute ein Park.
Aus dem Boden ragen vereinzelt alte Grabsteine. Ein Denkmal erinnert an
die Geschichte des Gettos, ein anderes an die aus Deutschland
deportierten Juden. Am Rand dieses Parks befindet sich die Uliza Suchaja
mit einem der wenigen erhaltenen Gebäude aus der Zeit des Gettos: die
zukünftige Geschichtswerkstatt.
Die »Jama« ist das älteste Denkmal, das an die Ermordung der Minsker
Juden erinnert. Es wurde nach dem Krieg von Überlebenden errichtet. Jama
bedeutet auf deutsch Grube. In einer Senke am Rande des Gettos
erschossen die Deutschen während der Getto-Razzien Juden, unter ihnen
die Kinder des Waisenhauses. Diese Grube liegt heute ebenfalls in einem
Neubaugebiet. Über Stufen steigt man hinab zu einem schwarzen Obelisken,
der an die Toten erinnert.
Das Vernichtungs- und Zwangsarbeiterlager Maly Trostenez
Kurze Zeit nach dem Einmarsch der Wehrmacht übernahm die SS die beim
Dorf Maly Trostenez gelegene ehemalige Karl-Marx-Kolchose und betrieb
dort ein Mustergut, auf dem Zwangsarbeiter arbeiten mussten. Bis zu 5
000 Juden und russische Kriegsgefangene wurden unter anderem bei der
Verwertung des Besitzes ermordeter Juden und bei der Asphaltierung der
für den Nachschub der Wehrmacht bedeutsamen Straße Minsk-Mogilev
eingesetzt. Diese Straße trennte das Lager vom Wald von
Blagowschtschina. An Tagen, an denen es der SS nicht gelang, alle nach
Blagowtschina geschafften Menschen bei Helligkeit zu ermorden, wurden
die übrig gebliebenen nach Maly Trostenec in einen abgetrennten Teil des
Lagers gebracht und mussten dort auf ihre Ermordung am nächsten Tag warten.
Im Oktober 1943 mussten russische Kriegsgefangene des Sonderkommandos
1005 unter SS-Standartenführer Paul Blobel die Massengräber der in
Blagowschtschina Erschossenen ausheben und zur Spurenbeseitigung die
Leichen verbrennen. Während dieser Zeit benutzte der Minsker SD eine
andere Exekutionsstätte im Wald von Schaschkowka, etwa 500 Meter vom
Lager entfernt. Die Erschossenen wurden hier sofort auf
Eisenbahnschienen verbrannt. Noch kurz bevor sich die Deutschen aus
Minsk zurückzogen, ordnete der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und
des SD (BdS) Heinrich Seetzen die Erschießung aller in Minsk
inhaftierten Zivilisten und der übrigen Kriegsgefangenen an. Zu diesem
Zweck wurden die Gefangenen nach Maly Trostenez verbracht und in der
Scheune des Gutes erschossen. Anschließend wurde das Gebäude in Brand
gesteckt. Mehr als 6 500 Menschen sollen auf diese Weise bis zum 30.
Juni umgebracht worden sein.
Ein bescheidenes Denkmal erinnert heute an den Ort. Zur Zeit durchsuchen
Mitglieder einer archäologischen Einheit der belarussischen Armee den
Waldboden nach Spuren, um die genaue Topographie dieses Ortes zu
erforschen. Reste des Verbrennungsofens konnte Mitte November 2002 in
drei Meter Tiefe an Hand von Ascheresten und Teerklumpen lokalisiert
werden und sollen im Frühjahr dieses Jahres ausgegraben werden.
Noch kurz bevor sich die Deutschen aus Minsk zurückzogen, ordnete der
Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) Heinrich Seetzen
die Erschießung aller in Minsk inhaftierten Zivilisten und der übrigen
Kriegsgefangenen an. Zu diesem Zweck wurden die Gefangenen nach Maly
Trostenez verbracht und in der Scheune des Gutes erschossen.
Anschließend wurde das Gebäude in Brand gesteckt. Mehr als 6 500
Menschen sollen auf diese Weise bis zum 30. Juni umgebracht worden sein.

Das Konzept der Geschichtswerkstatt
Auf der Konferenz im IBB Minsk am 28. September 2002 entspann sich nach
einer Präsentation von Alexej Litvin zum Konzept der Geschichtswerkstatt
auf belorussischer Seite eine lebhafte Diskussion über die
wissenschaftliche Evaluierung des Projekts. Das Konzept sieht vor, dass
der Schwerpunkt der einzurichtenden Geschichtswerkstatt zunächst auf die
Memorialisierung der Shoah in Belarus mit dem Fokus auf das Minsker
Getto und des Vernichtungslagers Trostenez gelegt wird.
An diesem Konzept wurde deutlich Kritik geübt. Eine Position, die oft
geäußert wurde, ist, dass das belarussische Volk als ganzes gelitten
habe und aller Gruppen der Verfolgten gemeinsam gedacht werden sollte.
Auch wurde gefordert, das Schicksal der unter Stalin ermordeten
Belarussen mit in die Konzeption der Geschichtswerkstatt einzubinden.
Aus diesen Gründen ist das Projekt Geschichtswerkstatt von Teilen des
interessierten Publikums mit Zurückhaltung aufgenommen worden.
Prinzipiell wird die Einrichtung einer Geschichtswerkstatt als
belorussisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt auch von zahlreichen
belorussischen Wissenschaftlern begrüßt und als Chance begriffen, von
der bisherigen Geschichtsschreibung von Belarus, die sich hauptsächlich
mit den Helden der Partisanenbewegung sowie dem Großen Vaterländischen
Krieg auseinandergesetzt hat, abzuweichen und neue Akzente zu setzen.
Zugleich wird gehofft, dass sich neue Arbeitsfelder erschließen und
Kontakte nach Deutschland geknüpft werden können.
Die zukünftige Geschichtswerkstatt soll einen Angelpunkt zwischen
deutscher und belorussischer Forschung zur Shoah in Belarus bilden. In
den Räumlichkeiten soll eine ständige Ausstellung an das Schicksal der
jüdischen Bevölkerung während der Okkupation erinnern.
Mittelpunkt sollen dabei nicht nur Fotos, Archivmaterialien und
persönliche Gegenstände von Überlebenden bilden, sondern auch Berichte
von Überlebenden des Holocausts in Form eines Oral-history-Archivs sowie
eine Handbibliothek. Daneben soll ein »Gedenkbuch« über jüdische Opfer
erstellt werden. Alle recherchierbaren Namen und Daten sollen in diesem
Buch systematisch zusammengeführt werden.
Auch bei der Darstellung des Holocausts in Minsk soll darauf geachtet
werden, die historischen Ereignisse an persönlichen Schicksalen und
Lebensläufen erfahrbar zu machen.
Vor allem Jugendliche sollen durch die Ausstellung erreicht werden.
Aufsatzwettbewerbe zu historischen Themen und Stipendien sollen
Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich auch inhaltlich einzubringen.
Das Ziel, junge belorussische Wissenschaftler und andere Interessierte
in die Vorbereitung mit einzubinden, ist bislang allerdings fehlgeschlagen.
Wesentlich für die Geschichtswerkstatt Minsk und ihr Gelingen ist die
Mitwirkung des für seine Gedenkstättenentwürfe ausgezeichneten
Architekten Leonid Lewin. Er ist zugleich Vorsitzender des Jüdischen
Zentrums. Das Jüdische Zentrum Minsk, das hauptsächlich von JOINT
finanziert wird, bildet das kulturelle und soziale Zentrum der jüdischen
Gemeinde in der Stadt. Ohne die Mitarbeit des Jüdischen Zentrums Minsk
wäre der Versuch, die Shoah in Belarus aufzuarbeiten, nicht denkbar.
Die Arbeitsgruppen
Der zweiwöchige Aufenthalt der Teilnehmer des Workcamps sollte als
symbolischer Anfang der Geschichtswerkstatt verstanden werden und die
Diskussion in Minsk mit anstoßen. Jedoch war die Gruppe bemüht, nicht
den Eindruck zu vermitteln, dass junge Deutsche mit der
Geschichtswerkstatt im Land der Opfer ihr Geschichtsbild dominant
vertreten wollen, sondern stattdessen ein gemeinsamer Weg des Gedenkens
und der Geschichtsaufarbeitung verfolgt werden soll.
Jenseits der symbolischen Ebene sollte das Konzept
»Geschichtswerkstatt«, wie es in den 1970er und 1980er Jahren in
England, Skandinavien und anderen europäischen Ländern entwickelt wurde,
auf seine Übertragbarkeit auf Belarus, bzw. Minsk geprüft werden. Macht
die Idee einer Geschichtswerkstatt Sinn? Wird man dem Thema und den
Opfergruppen damit gerecht? Wie bringt man die Idee einer
Geschichtswerkstatt in einem Land, in dem Gedenken bisher nur mittels
monumentaler Denkmäler stattfand, den Menschen näher? Wie ist eine
Geschichtswerkstatt finanzierbar? Für wen wird sie eingerichtet? Wie
unabhängig kann eine Geschichtswerkstatt in Belarus sein? Wie bezieht
man die Einwohner von Minsk mit ein? Diese Fragen stellte sich die
Gruppe und gab sie an Überlebende aus dem Getto weiter. Auf die
wenigsten Fragen gab es eindeutige Antworten. Aufgrund von Gesprächen
mit Überlebenden aus den verschiedenen Opfergruppen und der
Zeitzeugengruppe kristallisierte sich heraus, dass der Begriff der
»Werkstatt« vielen belorussischen Gesprächspartnern zur Aufbewahrung
ihrer Erinnerung unwürdig erscheint. Der Begriff »Werkstatt« wird ins
Russische mit »Masterskaja« übersetzt und ist auch nur in der
ursprünglichen Bedeutung (Handwerk) gebräuchlich.
Durch die Gespräche wurden weitere Kontakte zu Opfergruppen und deren
Verbänden geknüpft. Nicht zuletzt gelang es, den Teilnehmern eine
Vorstellung von den authentischen Orten zu vermitteln, die unter
ortskundiger Führung aufgesucht wurden. Des weiteren wurden erste
konkrete Projekte eingeleitet, die eine Grundlage der
Geschichtswerkstatt bilden sollen.

Archiv
Der Kontakt zu belorussischen Wissenschaftlern ermöglichte den
Teilnehmern den nicht selbstverständlichen Zugang zu den Minsker
Archiven. Die Archivgruppe arbeitete in drei von über fünf Archiven in
Minsk. Zum Parteiarchiv, in dem sich ein Großteil der Beutedokumente aus
dem Zweiten Weltkrieg befindet, hatte sie leider keinen Zugang. Die
Gruppe arbeitete hauptsächlich im Nationalarchiv, das im
Präsidentenpalast untergebracht ist. Im Nationalarchiv befinden sich,
bezogen auf die Themen Trostenez und Minsker Getto, hauptsächlich
Dokumente zur jüdischen Intelligenz, Erinnerungsberichte und publizierte
Material- und Dokumentensammlungen.3
Im Gebietsarchiv Minsk befinden sich vor allem Unterlagen zum Getto, die
u. a. Aufschluss über die Beschäftigungen von jüdischen Ärzten außerhalb
des Gettos und über Plünderungen von Apotheken im Getto gaben. Ferner
befinden sich dort handgeschriebene Erinnerungsberichte zu Trostenez auf
einem Mikrofilm, der noch einer intensiven Auswertung bedarf. Bei
sowjetischen Akten handelte es sich entweder um Übersetzungen oder um
Zeugenaussagen zu verschiedenen von den deutschen Besatzern begangenen
Verbrechen. In den einzelnen Minsker Archiven ist vor allem die
Geschichte der Partisanenbewegung während des Zweiten Weltkriegs gut
aufgearbeitet: Jede einzelne Handlung von Partisanen ist verzeichnet,
die Namen aller Partisanen erfasst. Schwieriger ist die Aktenlage
hingegen bei Personen, die nicht offiziell der Partisanenbewegung
angehörten, sondern aus dem Untergrund heraus Widerstand geleistet
haben. Wesentlich schlechter sind die Akten zu Opfergruppen wie Juden
aufgearbeitet, deren Schicksal lange Zeit ignoriert worden ist. Selbst
zu jüdischen Partisanen gibt es keinen eigenen Aktenbestand. Im
Fotoarchiv des Museums des Großen Vaterländischen Kriegs befinden sich
zum Themengebiet der Shoah in Belarus einige Aufnahmen vom Getto und von
Trostenez. Die Fotos von Trostenez wurden alle nach der Befreiung
aufgenommen. Auf Grund der kurzen Zeit waren weder eine systematische
Erfassung noch Auswertung der Dokumente möglich. Die Dokumentation der
Kopien der Archivdokumente erfolgte im Januar 2003.

Oral-history
Eine Gruppe aus sechs Teilnehmern führte während des Aufenthalts rund
ein dutzend Interviews mit Überlebenden aus dem Minsker Getto durch. Die
Fragen konzentrierten sich vor allem auf den Alltag im Getto. Wie war
Überleben unter diesen Umständen möglich? Die Interviews geben einen
umfassenden Überblick über das Leben im Minsker Getto. Daher möchte die
Zeitzeugengruppe die Gespräche über das Oral-history Archiv der
Geschichtswerkstatt Minsk hinaus öffentlich machen und plant die
Publikation ausgewählter Interviews bei einem deutschen Verlag. Darüber
hinaus strebt die Zeitzeugengruppe eine Kooperation mit einer bereits
bestehenden Interviewgruppe aus Minsk an, die bereits einen Band mit
Zeitzeugeninterviews publiziert hat.

Ausblick
Die Sichtung der Akten muss nun durch weitere Recherchen in deutschen
und auch in belorussischen Archiven fortgeführt werden. Das IBB Dortmund
beauftragte ebenfalls einige Teilnehmer des Workcamps, den Stand der
Wissenschaft zum Vernichtungslager Trostenez und zum Minsker Getto
aufzuarbeiten.
Der Architekt Leonid Lewin und seine Tochter Galina sowie einige
Teilnehmer des Workcamps, darunter der Journalist Paul Kohl, der seit
langem zu den Verbrechen der deutschen Wehrmacht auf belarussischem
Gebiet recherchiert,4 wurden vom IBB beauftragt, die geplante
Ausstellung räumlich und inhaltlich zu konzipieren. Die Zeitzeugengruppe
hat im Auftrag des IBB vom 16. bis 23. März 2003 bereits eine weitere
Reise nach Minsk unternommen, um die begonnenen Arbeiten abzuschließen.
Auch die grundlegenden Renovierungsarbeiten im Haus in der
Suchaja-Straße wurden mittlerweile beendet, so dass die
Geschichtswerkstatt Minsk am 22. März 2003 ihre Eröffnung feiern konnte.
Das IBB Dortmund versucht nun in Deutschland, einen Förderkreis
aufzubauen, der für das Projekt wirbt und die weitere Finanzierung
gewährleistet.
 
 

1 Die von 19431948 bestehende Außerordentliche Staatskommission zur
Untersuchung der deutsch-faschistischen Verbrechen bezifferte die Zahl
der Ermordeten in Trostenez auf 206 500. Christian Gerlach geht von 60
000 Menschen aus, die bei Trostenez vernichtet worden sein könnten
(Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Hamburg 1999, S. 770).
2 Uwe Gartenschläger: Die Stadt Minsk während der deutschen Besetzung.
Dortmund 2001.
3 »Geiseln der Wehrmacht«, G. D. Knatko, M. I. Bogdan, A. I. Ges (Hg.),
Minsk 1999, »Holocaust in Belarus. 19411944. Materialien und
Dokumente.«, zusammengestellt von E. G. Joffe, G. D. Knatko, W. D.
Selemonev, Nationalarchiv der Republik Belarus, Minsk 2002
4 Paul Kohl: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der deutschen Polizei
19411944. Sowjetische Überlebende berichten. Frankfurt/Main 1995.

 
 
 Bibl.:
Alexander Korb, Gabriele Layer-Jung: Geschichtswerkstatt Minsk - Ein belorussisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt. In: GedenkstättenRundbrief 113 113, Jg. 20036